lxplm.

Waiting for the great leap forwards.

Sehr besorgte Bürger und sehr kurze Geschichten

| 6 Kommentare

Kollege Eckhart Heck machte mich neulich auf einen Schreibwettbewerb von Astikos aufmerksam, bei dem die Autoren ein Drabble einreichen sollten (also eine pointierte Kurzgeschichte, die es exklusive Überschrift auf genau 100 Wörter bringt). Das Format kannte ich – selbst geschrieben hatte ich so was aber bisher noch nicht.
Es sollte sich herausstellen, dass mir die Textproduktion nicht schwer fiel. Flugs landete mein Beitrag bei der Jury – allerdings leider nicht (wie Eckis Geschichte) in der Endrunde.
Das hindert mich nun natürlich nicht daran, zur Finger- und Gehirnlockerung weiterhin Drabbles zu produzieren. Und eins davon stelle ich heute mal ins Blog:

Wir schaffen das nicht

„Liebe B., lieber R.“, steht da in Sonntagsschrift. „Wir haben ein riesiges Problem. Ich bin äußerst besorgt.“ Es folgen Ausführungen über Asylanten, die „unsere Kultur zerstören“ und „immense Kosten produzieren“. Zitate von „Regierungskritikern“ sowie „nicht zu widerlegende Statistiken“. Fein säuberlich ausgedruckte Blog-Artikel. Ich habe den Brief per Zufall offen auf dem Tisch liegen sehen. Bei den Eltern von D. Ich denke über den Absender nach. Tatsächlich kenne ich ihn. Ein bescheidenes Haus in mittlerer Lage. Vier, maximal fünf Restaurantbesuche pro Woche. Mehr kann er sich nicht leisten mit seiner Doppelrente. Wieso versteht ihn keiner? Die Grenzen der Belastung sind erreicht.

6 Kommentare

  1. Hi Alex!
    Ich denke, Geld ist wohl weniger das Problem, aber diese Drabbles sind sehr griffig.
    Das kommt einem Kurzzeit-Gedächtnis-Künstler wie mir wirklich sehr entgegen.
    Ich habe zwar die Anzahl der Wörter in deinem Drabble nicht selbst gezählt, aber laut der Wörterstatistik in MS-Word sind es tatsächlich genau einhundert Wörter.
    Gruß Eric.

    • Hi Eric. Natürlich ist Geld de facto kein Problem. Sage ich doch! Ansonsten: Danke fürs Nachzählen (hatte ich tatsächlich selbst schon gemacht) – und schick doch mal eine Geschichte von dir rüber, wenn du magst.

  2. Urbanes Schreiben – so wird ein neues Format der social-media-affinen Macher genannt. Tatsächlich ist es Meinungsvertrieb, auch neudeutsch Drabble genannt. Einhundert Wörter, um die Welt sich und anderen zu erschließen. Drabble hat den Anspruch, pointierte Kurzgeschichte sein zu wollen. Vielleicht ist´s nur ein Kochrezept der Meinungsmache in der geistigen Fastfood-Küche. Per Produktplacement-Strategie in die verdinglichte Smartphone-Welt geworfen. Jeder Satz ein Häppchen – hier das Asylantenproblem, dort das Narzissmus-Verhalten als Probierlöffelchen hingehalten. Die Ängste der nach rechtsgerückten Gesellschaftsmitte andeutend. Anreiz und Andeutung statt Analyse. Drabble als akademisch-bildungsbürgerliche Variante von Twitter. Nuhr-satirische Zwischentöne der [neoliberalen] Arroganz sollen das Salz in der Botschaftssuppe sein. Oder?

    • Ui. Kratzbürstige Kritik – die hier allerdings die falschen Subjekte attackiert. Nämlich einen freundlichen DIY-Verlag, eine harmlose Literaturform mit „In der Kürze liegt die Würze“-Prinzip und einen Autor, der einfach mal was probieren wollte. Niemand möchte ausführliche Analysen des nach rechts gerückten Bürgertums durch neoliberale Diskurs-Häppchen ersetzen. Echt jetzt. Die en passant erfolgte Pauschal-Diskreditierung von Twitter ignoriere ich jetzt mal. 🙂

      • Schon bei meinen ersten Text die Wörter gezählt? Richtig: 100 Wörter! Zwar keine Kurzgeschichte als Textform, jedoch eine kurze Kritik. Und das als selbstgewählte Grenze zur Darstellung (m)einer verkürzten Meinung und als Hommage an das urbane Schreiben á la Drabble. 🙂

        Aus meiner Sicht waren es die richtigen Objekte: die Textform und den „DIY-Verlag“ und deren weniger positiven Seiten aufzuzeigen, war die Absicht. Den Autor – Dich – als Subjekt und Persönlichkeit zu kritisieren, lag mir fern – nur dein gewähltes Mittel war zu hinterfragen.

        Ich habe sozusagen die Probe aufs Exempel gemacht, dass urbanes Schreiben bei mir auch die Assoziation weckt, weniger Tiefe und weniger Nachhaltigkeit zu erzeugen.

        Worte zu wählen und Sätze zu formulieren benötigen Denken und Zeit auf Seiten des Produzenten. Und Zeit ist Geld. Die Schlussfolgerung wird in diesem Umfeld lauten: es wird Zeit gespart für den Rezipienten. Und aus meiner Sicht fördert dies jenes Verhalten und Wirkung, was Adorno in seiner „Minima Moralia“ so formulierte: „Das Tabu gegen Fachsimpelei und die Unfähigkeit zueinander zu reden sind in Wahrheit das Gleiche.“
        „Was einmal … Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.“

        Weil die Grenze der Hundert-Worte-Kurzgeschichte überschritten werden muss, damit das Denken nicht der verwertbaren Willkür unterworfen wird, liegt prinzipiell in der Drabble- Kürze keine Würze mehr.

        Ich sehe in der Nutzung der social-media-Techniken ein weiteres Mittel zur Reizüberflutung und in der Folge als Verhalten Gleichgültigkeit oder Rückzug ins Private – bei gleichzeitiger Anwesenheit im öffentlichen Bereich. (Man denke sich das Bild des über dem Display geneigten Kopfes.)

        Urbanes Leben als Vielfalt und Förderung der Fähigkeit zum Wandel wird dagegen gestaltet durch physisches Begegnen. (Man denke sich dabei bewusst ein Leben ohne Facebook, Twitter und Smartphone für einige Tagen und Wochen. Verabredungen zum realen Treffen in Cafés und anderen öffentlichen Orten ausgenommen.)

        • Wenn ich mich nicht verzählt habe, besteht dein erster Kommentar aus 102 Wörtern – weshalb ich auf das Format nicht eingegangen bin. Ich find’s allerdings interessant und lobenswert, dass du das Drabble-Format im Drabble-Format kritisieren wolltest. Was nun Adornos wuchtige Worte betrifft, die ich auch sehr schätze: Schießt du hier nicht mit Kanonen auf Spatzen? Natürlich hast du grundsätzlich Recht: Pop-Literatur mangelt es oft an Tiefe; der Fokus liegt auf dem Unterhaltungsfaktor bzw. der Verwertbarkeit. Und die Kommunikation in der Social-Media-Welt des 21. Jahrhunderts ist oft sehr flüchtig. Allerdings ist sie auch ziemlich demokratisch – früher war der Diskurs viel elitärer. Ich musste übrigens eben an Neil Postman denken, der ja vor ca. 30 Jahren diagnostizierte, dass wir uns „zu Tode amüsieren“. Das mag in vielen Bereichen zutreffen. Allerdings: Neue Medien und Formate schaffen es auch, harte, ernste Themen in den Mittelpunkt eine öffentlichen Debatte zu rücken, gerade weil alle so schnell, kompakt und transparent auf bestimmte Informationen zugreifen können. Ob die Themen nachher ordentlich und sinnvoll weiterverfolgt werden, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Noch ein weiterer Gedanke: Die Länge/Tiefe eines Textes sagt ultimativ gar nichts über dessen Qualität bzw. dessen fortschrittlich-kritische Haltung aus. Man vergleiche zum Beispiel Hitler mit Brecht. So. Und jetzt würde ich die Diskussion gerne abbrechen, ich muss nämlich zwecks Brötchengenerierung im real existierenden Kapitalismus noch ein paar (relativ kurze und netzkonforme) Texte produzieren. 🙂

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.