I hold out for consensus / Give the masses the benefit of the doubt
Insist the democratic process / will bear this population out
I think my only fear of death / Is that it may not be the end
We may be eternal beings / And must do all of this again
Übermorgen ist Bundestagswahl. Mir ist ein bisschen schlecht. Es geht um was. Zum Beispiel um die Zukunft meiner Tochter. Also dann: Reduziere ich mal die Einzelkommentare in den sozialen Netzwerken – und packe einen ausführlicheren Text in mein Blog. Vielleicht kann ich ja zwei, drei Menschen positiv beeinflussen. Oder zwei-, dreihundert vergrätzen. In jedem Fall ist das Ganze eine gute Schreibübung und eine Antwort auf die quälende Frage: Welches Wahlergebnis würde mich denn ein bisschen optimistischer weniger pessimistisch stimmen?
Noch eine Bemerkung vorab: Ich stütze meine Takes auf (leicht recherchierbare) Tatsachen, bin aber zu müde, um hier 99 Links zu versammeln, auf die eh niemand klickt.
Und los geht’s. Mit den Kanzlerkandidat*innen:
Ich finde sie ultimativ alle uncool, wobei ich selbstverständlich noch deutliche Unterschiede wahrnehme.
Armin Laschet ist zum Beispiel für halbwegs zivilisierte Bundesbürger*innen schlicht unwählbar. Das wissen wir spätestens durch die ausführlichen Analysen erfreulich investigativer YouTuber und tatsächlich noch präsenter Qualitätsmedien. Sogar konservative Promis hadern mit dem Mann. Warum er immer noch auf zweistellige Umfragewerte kommt, erschließt sich nur nach qualvoller Analyse demographischer Daten – und mit verdammt großer Empathie.
Kommen wir zu Olaf Scholz. Der wird aktuell tatsächlich als nächster Bundeskanzler gehandelt und auch von eigentlich progressiven Menschen unterstützt, was mir einigermaßen absurd erscheint. Klar, Scholz ist kein Demagoge, keine absolute Lachnummer und auch nicht so verlogen wie sein Konkurrent von der CDU. Dennoch denke ich, sobald sein Name fällt, vor allem an äußerst halbherzige Umweltpolitik (Vertagung des Kohleausstiegs etc.), unangenehme Sozialpolitik (Original Hartz-IV-Fanboy) und dubiose Finanzgeschäfte (Cum-Ex, Wirecard). Dann ist da noch Scholz‘ krasser Kommentar zum G20-Gipfel: „Es hat keine Polizeigewalt gegeben.“ Oder seine Verantwortung für den tödlichen Brechmitteleinsatz in Hamburg. Dazu das ewige Scholzomat-Gebaren. Seeheimer finden das nice. Bei mir rollen sich die Zehennägel hoch.
Bleibt Annalena Baerbock, bei der ich tatsächlich nicht sofort die Flucht ergreifen muss. Sie wirkt qualifiziert und freundlich. Außerdem ist sie weitgehend skandalfrei. Wobei das mit dem Buch und dem Lebenslauf natürlich kacke und peinlich und absolut unprofessionell war. Aber ich würde ihr diese Patzer verzeihen, denn sie scheint eine menschliche Politikerin zu sein, die die Gesellschaft positiv verändern will. Leider gibt’s da eine andere Sache, die mich arg stört. Baerbocks Auftreten ist mir viel zu unentschlossen und harmlos. Ständig signalisiert sie mir, dass sie im Zweifel doch mit allen koalieren würde (Ausnahme: AfD), statt einfach mal mit Herz und Hirn und Rückgrat für ein ultimativ auch nur sozialdemokratisch-liberal-ökologisches Bündnis einzutreten – also eine Koalition aus ihrer Partei, der SPD und der Linken. Wenn sich „zufällig“ was Anderes durchsetzt, wird Baerbock wohl ohne Schmerzen vor Regierungspartner*innen und den Hardcore-Realos aus den eigenen Reihen einknicken. Es gibt Leute, die das völlig okay finden, ich persönlich finde es fragwürdig bis enttäuschend und strategisch unklug. Wie sollen die Unentschlossenen links von den Grünen abgeholt werden? Beziehungsweise: Wie soll denn bitte eine fortschrittliche Regierung unter Beteiligung von Union und/oder FDP aussehen? Baerbocks Agenda wird dann sofort weichgespült. Das weiß sie auch. Dennoch hält sie lieber den Ball flach, möchte keine neu rekrutierten Besserverdiener und Mitte-Papis gleich wieder vergrätzen.
Werfen wir einen Blick auf die (großen/größeren) Parteien.
Was für Laschet gilt, gilt natürlich für die gesamte CDU/CSU: für freundliche Menschen unwählbar. Wegen unterirdischer Klima-, Sozial- und Digitalpolitik, wegen Inkompetenz und Korruption, wegen Unterwanderung und/oder Duldung (extrem) rechter Kräfte, wegen Ministern wie Klöckner, Kramp-Karrenbauer, Scheuer, Seehofer, Spahn, wegen Kandidaten wie Amthor, Maaßen und Merz, die Liste ist schier endlos. Merkel erscheint im direkten Vergleich nahezu als Lichtgestalt, wobei sie natürlich 16 Jahre lang für das Gesamtelend verantwortlich zeichnete, im Zweifelsfall immer auf Appeasement getrimmt war und in ihrer letzten Bundestagsrede enorm peinliche „Rote-Socken“-Agitation betrieb.
SPD: Partner in Crime der Union, in 12 von 16 Jahren Merkel-Regentschaft stets um Burgfrieden bemüht, egal wie schaurig es wurde (s. oben) – wobei man natürlich auch ein bisschen was durchgesetzt hat (Mindestlohn und Rentengedöns, Corona-Pakete, Ehe für alle), aber eben nicht wirklich viel. Scholz war im Kabinett Merkel IV Finanzminister (hust) und Vizekanzler, Maas trifft eine substanzielle Mitschuld am Außenpolitik-Horror Afghanistan. Besonders spannend für mich: Das Umfallen vermeintlich linker GroKo-Kritiker wie Esken, Nowabo und Kühnert, die nun ebenfalls dem Scholzomaten die Stange halten. Und was war noch mal die letzte große Schlagzeile im Zusammenhang mit Svenja Schulze? Stimmt: Sie hat ein Klimaschutzministerium abgelehnt.
Zu den Grünen habe ich ein spezielles Verhältnis: Einerseits erschienen sie mir lange als größte Nemesis (weil ich 1998-2003 so maßlos von ihnen enttäuscht war; zum Glück hatte ich sie nicht gewählt). Andererseits sehe ich in den letzten 16 (bzw. 4) Jahren doch einen gewissen Wandel, eine gewisse Einsicht, solide Oppositionsarbeit, gutes Personal (Frauen, Nicht-Weißbrote), und die Chance auf ein halbwegs progressives Projekt in der Zukunft. Zuwider sind mir allerdings diverse Hippies und Esos in den Reihen der Partei sowie Gruselgestalten à la MP Kretschmann und OB Palmer. Oder die Leute, die in Hessen gemeinsam mit Volker Bouffier regieren. Das Landelistendebakel im Saarland fand ich auch abtörnend. Und dieser schreckliche Wahlkampfsong! Am verstörendsten ist aber vielleicht die Tatsache, dass das Wahlprogramm der Grünen gar nicht mal besonders grün ist (s. wissenschaftlich fundierte NGO-Kritik).
Über die FDP muss ich an dieser Stelle nicht viele Worte verlieren. Die „Liberalen“ sind v.a. wirtschaftsliberal, zunehmend rechts (Paradebeispiel: Causa Kemmerich), mysogyn und peinlich. Freiheitsrechte und humanistisch geprägter Liberalismus spielen de facto keine Rolle mehr. Hinzu kommt, dass Lindner & Crew schon 2017 keinen Bock hatten, halbwegs konstruktive Regierungsarbeit zu machen, weswegen ihnen diese dornige Chance hoffentlich auch 2021 verwehrt bleibt. Wobei SPD und Grüne im Zweifel natürlich kräftig facilitaten würden (heul).
Die AfD ist hier nur erwähnt, weil sie (leider) in den BT einziehen und eventuell sogar viert- oder drittstärkste Kraft werden wird (Schande). Die Partei ist rechtsradikaler Schmutz. Wer sie wählt, unterstützt oder verhamtlos, ist das ebenfalls. Genug gesagt.
Dann ist da noch die Linke: Die schwächste Partei im Parlament (ich erwarte ein bescheidenes, einstelliges Ergebnis) ist inzwischen v.a. sozialdemokratisch, ökologisch und digital angehaucht sowie erstaunlich divers besetzt. Das würde sie eigentlich enorm sympathisch machen, gäb’s da nicht die nervigen bis gefährlichen Anti-Imps, Antisemiten, Rassisten, Russlandkuschler, Vulgärmarxisten und Zonen-Fanboys. Klaro, diese Leute sind nicht in der Mehrheit, aber sie können viel zu oft und viel zu lange ihr Maul aufmachen. Dennoch: Im Vergleich zu den anderen größeren und großen Parteien ist das fast noch zu verschmerzen, weil es auf der anderen Seite viele kluge und reflektierte Menschen gibt, die sich auch mit scharfer Kritik in den eigenen Reihen nicht zurückhalten. Was der Partei natürlich am meisten schadet (haha). Realpolitisch wäre es wohl wünschenswert, die Linke als Juniorpartner in eine Grün-Rot-Rote-Koalition einzubinden – wo die größten Querulanten (und Spinner) dann einfach nicht mitmachen können/dürfen.
Sprechen wir etwas ausführlicher über mögliche Koalitionen: GRR scheint mir als das mit Abstand geringste Übel, wobei Baerbock als vergleichsweise junge, kosmopolitisch agierende Frau sogar eine gewisse Strahlkraft entwickeln könnte (s. Jacinda Ardern in NZ). Problem: Diese Koalition ist aktuell nicht möglich, weil die SPD (warum auch immer) weit vor den Grünen liegt und somit sicher einen Führungsanspruch geltend macht. RGR wäre tatsächlich auch noch zu ertragen – wenn es Grüne und Linke schaffen würden, dauerhaft dem Scholzomaten und anderen konservative Kräften in der SPD zu trotzen (und deren linker Flügel nicht komplett kaputt ist). Alle anderen ernsthaft denkbaren Kombis, egal ob Kenia (uah, GroKo + grüne Erfüllungsgehilfen) oder Kongo/Ampel (uah, Rot-Grün 2.0 + FDP-Schnösel) oder Belgien (uah, GroKo + Lindner Crew) oder Jamaika (echt jetzt?) oder die 99ste GroKo erscheinen mir als verhängnisvoll, da sie maximal für ein „Weiter so!“ eintreten würden – was fürchterliche Folgen für Gesellschaft und Umwelt hätte. Der Super-Gau wäre freilich eine (z.Z. zahlenmäßig knapp verfehlte) Koalition aus Union, FDP und AfD. Dieses Szenario halte ich leider nicht für komplett ausgeschlossen, da ja im Zweifelsfall der Ausbruch des Kommunismus in Deutschland verhindert werden muss und die „Brandmauer gegen Rechts“ schon jetzt schwere Risse hat.
Aber: Schauen wir einfach mal, was die Wähler*innen so machen. Wie gut ihr Langzeitgedächtnis funktioniert, wie souverän sie Wahlkampfpropaganda und Desinformation trotzen können, was ihr Gewissen ihnen sagt. Vielleicht ist eine Mehrheit wieder angetan vom Konzept „Wasser predigen, Wein trinken!“, vielleicht duldet (oder beklatscht!) sie erneut einen Haufen Klassisten, Rassisten, Sexisten, Umweltzerstörer und neoliberale Teflon-Dullis. Vielleicht geht’s aber auch zur Abwechslung noch mal ein bisschen in Richtung soziale Gerechtigkeit, freundliches Miteinander und nachhaltiger Schutz des Planeten (den wir doch echt als Lebensgrundlage brauchen).
Die Hoffnung auf politischen Fortschritt stirbt zuletzt.
Das Foto habe ich mir von Claudio Schwarz ausgeliehen (und anschließend einen SW-Filter drübergelegt).
In der ersten Version des Beitrags hatte ich bei den nicht wünschenswerten Bündnissen tatsächlich die Kongo-Koalition (Ampel) vergessen, die aktuell schon in RLP getestet wird.